Wünsche konkretisieren?
24. Dezember 2020:
Es duftet nach Zimt und Kaffee, ein wohliges Knistern und Knacken von Kaminfeuer drängt sich im Hintergrund in meine Ohren. Es duftet nach frischen Cookies aus dem Ofen und die schummrige Beleuchtung fördert eine leicht-angenehme Müdigkeit. Ich sitze in bequemen Sachen gemütlich in einem Kaffee, vor mir eine Tasse Milchkaffee mit Zimtschaum und einem halb aufgegessenen 3.000-Kalorien-Schoko-mit-Schokoflüssigkern—Traum und tippe in mein MacBook. Ich liebe es vom Café aus zu arbeiten und so lässig und entspannt mein Geld zu verdienen. Dieser kreative Flow und das Glücksgefühl tiefer Zufriedenheit durchdringt mich und lässt mich wohlig seufzen. Ich liebe meinen Job und die Selbständigkeit.
Viktoria stößt mir in die Seite und sagt leicht panisch: „Christine! Das Versicherungskärtchen lässt sich nicht einlesen!“ Ich tauche aus meiner Traumwelt auf und schwappe eiskalt in die brutale Welt von direkter Beleuchtung einer umfunktionierten Krankenhaus-Cafeteria und ganz vielen Hintergrund-Geräuschen. An den Aufzügen schreit ein Kind. An der Pforte gibt es ein bisschen Trouble mit einem schwerhörigen Patienten. Natürlich gibt es in dieser Cafeteria momentan keine Kaffeespezialitäten. Dafür gibt es Covid-19-Antigen-Tests im Fünf-Minuten-Takt. Ich atme tief in meine FFP-2-Maske aus, die Charge hat mir schon die ganzen letzten Tage die Haut im Gesicht ruiniert.
Das Problem mit dem Versicherungskärtchen lässt sich schnell beheben und schon stehen die nächsten Anwärter für ein Stäbchen in der Nase vor uns. Nach Weihnachten werden sie durch Menschen ersetzt, die eine Impfung bekommen sollen. Und die Feiertage werden wohl emsig dazu genutzt werden, um alles darauf vorzubereiten. Wozu groß die Familie sehen, man könnte sie ja doch nur anstecken. Nach dem Fiebermessen darf das Ehepaar vor unsere knappe Plexiglas-Scheibe treten und sich anmelden, um kurz vor Weihnachten noch das OK für einen Besuch im Altenheim oder bei den Eltern zu bekommen. Es ist eine kalte, sinnlose Realität. So habe ich mir das mit dem Geld verdienen am Laptop nicht unbedingt vorgestellt. Und dann ist es auch kein schnurrendes MacBook, sondern ein dauernd update-forderndes, bereits in die Jahre gekommenes Microsoft-Teil. Und Kaffee gibt es auch keinen.
Ich komme an diesem Tag zu einer wichtigen Erkenntnis: Christine, du musst Deine Wünsche sehr konkret und besser ausformulieren, sonst gibt dir das Leben grundsätzlich die Mittelfingerversion davon. Statt in einer Cosy-Winter-Wonder-Insta-angehauchten-Traumwolken-Welt mit weißen Kuscheldecken und gedämpften Lichterketten gibt es harte Realität im Krankenhausalltag – inclusive Pandemiewahn. Und in beiden Realitäten ist die einzige Gemeinsamkeit: Es gibt Kaffee. Also im Traum mit viel Milchschaum und in der Realität sitze ich an einem Behelfsarbeitsplatz, hinter mir die ausgeschaltete Industrie-Kaffeemaschine der Klinik. Mittelfingerversion.
Ich sitze da und mir kommt das ganze Jahr irgendwie surreal vor. Es ist ein Jahr der Extreme. Ich hatte mir ein wirklich gemütliches und langweiliges 2020 gewünscht. 2019 war für mich (uns) schon anstrengend genug. Es gab genügend Aktion am Stall und alles war irgendwie ganz hektisch und stressig, auch sehr kraftraubend. Und dann kam dieses 2020 – Langweilig ist ungefähr das letzte Wort, mit dem ich es beschreiben würde. Spontan fallen mir Worte wie: Lebensbedrohlich, Beängstigend, Eskalierend, Ungewöhnlich, Zerschmetternd, Sponsored by Anonyme Alkoholiker und Surreal ein.
Es hat eigentlich richtig schön mit einem gemütlichen Kurzurlaub im Januar angefangen, an den ich immer noch gerne zurück denke. Dann hat es probeweise zugeschlagen mit Jacintos Knieverletzung. Ich war zwischendurch überzeugt, dass unsere letzten Wochen zusammen angebrochen sind, was ich ehrlich gesagt nicht sehr gut verkraftet hätte. Dann kam Covid. Eine Pandemie. Ein Lockdown. Kompletter Stillstand der Welt. Sehr unwirklich. Die Nachrichten haben sich überschlagen. Und auch die Veränderungen in dieser Bundesrepublik Deutschland. Wie schnell haben sich eingefahrene Dinge verändert, sind Notfallpläne in Kraft getreten. Und was haben all die Menschen nur mit dem ganzen Klopapier gemacht? Und warum musste ich die ganze Zeit durcharbeiten?
Wir haben auf die wenigen Fälle in unseren Landkreisen geschaut und sind dann leider alle leichtsinnig geworden. Die Pandemie ist noch nicht fertig mit uns. Sie kommt jetzt erst so richtig in Fahrt. Jetzt, wo alle mürbe sind und keine Lust mehr haben, nimmt sie so richtig Schwung auf und zeigt uns jeden Fehler auf. Sie F*** uns, aber so richtig.
Ich habe tatsächlich Angst vor dem Januar. Ich möchte nicht, dass Menschen, mit denen ich zusammen arbeite, entscheiden müssen, wer einen Intensiv-Platz bekommt und von zu wenig Pflegekräften (die schon gebeutelt genug sind) behandelt werden darf und wer grauenvoll im eigenen Saft ersticken soll.
Wir haben also alle ein Jahr hinter uns, das alles andere als Langweilig war. Es begann mit einem erstaunten Erstarren, durchmischt mit diversen Panikattacken, einem angewöhnten Psychohusten – der zutage Tritt, wenn mehr als drei Menschen länger als fünf Minuten auf einem Fleck stehen – einer gewissen Hoffnungslosigkeit und einer exzessiven Vorliebe für Winzerglühwein.
Ehrlich gesagt, möchte ich mir gar nicht vorstellen, wie Menschen dieses Jahr überlebt haben, die keine Pferde haben, oder die keinen Menschen haben, zu dem sie gehören. Dieses Jahr war und ist das anstrengendste Jahr, meines Lebens. Ich hatte keine Ruhe, ich fühle mich ausgebrannt und zerschlagen. Aber anderseits war es auch ein Jahr, in dem ich extrem gewachsen bin, ganz tief in mir drin. Es ist ein Jahr, dass Grenzen auslotet. Und wisst Ihr was?
Jetzt gehe ich das erste Mal bewusst und irgendwie innerlich gestärkt aus einem Jahr heraus. Es hat mich extrem geerdet. Ich versuche Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht mehr stressen zu lassen. Von niemandem. Dinge ändern sich momentan so schnell, da kommt man fast nicht hinterher. Vor allem arbeitstechnisch. Ich versuche mir in jedem Bereich das Gefühl von leicht staunenden Kleinkindern zu erhalten, die gebannt auf die Ereignisse und deren Entwicklung achten und sie dann zu begreifen versuchen.
Ich versuche die kleinen Dinge für nicht selbstverständlich zu nehmen. Ich hatte dieses Jahr sehr viele schöne Gespräche, ich habe tatsächlich neue Freunde dazu gewonnen. Es war trotz Social Distancing ein sehr intensives Jahr. Ich vertraue in Menschen, die mir Halt geben, auch wenn ich sie nicht ständig um mich herum habe, oder sie nur kurz sehen kann.
Ich rede manchmal sehr viel über Covid-19, weil ich es für mich verarbeiten muss. Es ist zu einem großen Teil meines Lebens geworden. Ich versuche es zu begreifen. Es lässt sich leider nicht begreifen, was es so gefährlich macht.
Und ich habe absolut keine Geduld mehr mit Menschen die Dumm und Ignorant sind. Ich habe keine Lust mehr auf selbstsüchtige Arschloch-Menschen, die sich keinen Deut um ihre Mitmenschen scheren. Ich will das nicht mehr. Ich möchte, dass alle Menschen sich etwas mehr um Ihre Umwelt kümmern, und etwas mehr aus ihrem Suppentellerrand heraus nachdenken. Ich hab keine Lust mehr auf Aluhut-Schwurbler, Virologen mit Bild-Expertise und selbsternannten Impfstoff-Experten. Ich will, dass wir da alle gut wieder raus kommen und das gemeinsam durchstehen. Ich will etwas mehr Weitblick von jedem Einzelnen. Sind wir doch mal ehrlich: noch geht es uns hier in Deutschland doch noch gut, so insgesamt gesehen. Menschenrechte werden eingehalten und es gibt einen Sozialstaat und keine kriegerische Dikatur und Nahrung ist auch für jeden da. Wir leben hier nicht in Moria-Zuständen. Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass sich die Menschheit einfach noch ein bisschen zusammen reißt und weniger Alu-Hüte trägt, oder zumindest versteht was die Worte „VIRUSINFEKTIONSWEGE VERMEIDEN“ tatsächlich bedeutet. Kleiner Tipp: Auf jeden Fall nicht ohne Maske mit der stadtbekannten Tratschtante am Supermarktparkplatz über 20 Minuten lang Neuigkeiten austauschen und dann noch ihre angehustete Hand nehmen und sich kurz drücken lassen.
Und einige Dinge könnten wir ja beibehalten. Abstand halten zum Beispiel. Habe ich schon immer gehasst, wenn mir beim Einkaufen oder sonst wo ungefragt fremde Menschen auf meine Pelle rücken – außer sie sehen aus wie die Feuerwehrmänner, meines 2021 Feuerwehr-Männer-Kalenders. Hygienemaßnahmen: Öfters mal Händewaschen hat noch niemandem geschadet. Seife übrigens auch nicht. Nicht nur nach dem Toilettengang. Übrigens finde ich es sehr faszinierend, was für alternative Ideen und lustige Videos manche Menschen im Lockdown entwickelt haben, oder wie sie kreativ diese Pandemie zu verarbeiten versuchen. Auch bin ich für mehr Homeoffice. Aber … naja, danke für nichts. Man kann ja nicht alles haben.
Jedenfalls gehe ich aus diesem Jahr gefühlt innerlich stärker hervor. Es hat mich nicht klein bekommen. Und 2021 wird mich auch nicht klein kriegen. Ich erwarte von 2021, dass es mich durchatmen und ausruhen lässt. Jetzt nicht unbedingt in Form einer Intensivbeatmung mit getakteten Atemzügen und Sedierung inclusive anschließender wochenlangen Post-Beatmungs-Reha und einer kleinen, entzückenden Nachbeatmungs-Depression aufgrund einer unberechenbaren Viruspneumonie, sondern bitte in Form von Urlaub am Meer und dort (konkret: ein hübscher Strand bei farbintensivem Sonnenuntergang auf Rügen! Da wollte ich schon immer mal hin!) ganz gechillt ein Glas Wein oder ein Bierchen trinken, nachdem ich ein leckeres Fischbrötchen und ein Eis gegessen habe. Ohne, dass irgend etwas Schlimmes passiert.
Und ich möchte, dass alle die ich mag und die mir durch dieses Jahr geholfen haben gesund bleiben. Und die, die ich nicht mag auch, weil alle kranken Menschen machen mir momentan extrem viel Arbeit. Und ich hoffe, ich konnte dieses Jahr auch einigen Menschen helfen, den Wahnsinn zu ertragen. In diesem Sinne: Wir sehen uns nächstes Jahr!
Ich bin gespannt was es uns zu bieten hat … vorsichtshalber wünsche ich mir mal gar nichts, man weiß ja nie. Außer vielleicht: Haltet noch ein bisschen durch und Abstand, ignoriert Fake-News von Pseudo-Experten. Kümmert Euch um Eure Freunde. Wir sehen uns.

Ich wünsche Dir zunächst ein erholsames, frohes Weihnachtsfest und ein wenig mehr Kaffee mit Zimtschaum und viel weniger von dem, was wir im Jahr 2020 an unangenehmen Dingen hatten.
Mein einziger Hoffnungsschimmer, vielleicht habe die Menschen durch diesen Wahnsinn wieder ein wenig mehr „gemeinsam“, eine wenig mehr „tolerant“ und ein wenig mehr von all den Menschen, Tieren, Gefühlen, die wir lieben.
Alles Liebe und Gute aus Österreich
Danke Gaby!
Hoffen wir, der Herr schmeißt genug Hirn vom Himmel! Für Alle! 😘